Häusliche Gewalt erkennen und handeln

Gewalt hat viele Gesichter und beginnt nicht erst mit körperlicher Misshandlung. Auch Abwertungen, Beschimpfungen, Bedrohungen, Isolation sowie sexuelle Übergriffe gehören dazu und können in Tötungsversuchen gipfeln.



Autorin:
Ass. Prof. Univ.-Doz. Dr. Sabine Völkl-Kernstock

Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin, Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie Medizinische Universität Wien

sabine.voelkl-kernstock@meduniwien.ac.at


Betont sei hier, dass Gewalt generell, sohin auch familiäre Gewalt, schichtunabhängig ist und von häuslicher (Partner-)Gewalt zumeist Frauen, aber auch Kinder sowie Männer betroffen sind. In deutschsprachigen Studien zeigte sich, dass jede vierte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexualisierter Partnergewalt wird, einberechnet auch jene durch ehemalige Partner.



Die „Festung Familie“

Die Folgen häuslicher Gewalt sind für Betroffene schmerzhaft. Auch dann, wenn körperliche Blessuren schon längst verheilt sind, bleiben die unsichtbaren Narben und wirken weiter, oftmals auch paradox dahingehend, dass eine Verbundenheit mit dem zur Familie gehörenden Aggressor weiter aufrecht bleibt, sich Betroffene selbst für das gewaltvolle Geschehen verantwortlich fühlen und, von Schuld- und Schamgefühlen überhäuft, der familiären Verbundenheit trotzdem die Treue halten.

Diese Dynamik lässt zumeist von außen niemanden in das Familiensystem Einblick nehmen, gleichsam einer Festung. Was im Inneren passiert, bleibt auch in diesem und wird nicht an Außenstehende verraten. Die drohenden Konsequenzen wie Zerfall der „Familienfestung“, Bedrohung der materiellen Existenz, Wegweisung des Aggressors, Abnahme von Kindern und Involvierung von Institutionen und Behörden werden häufig bedrohlicher erlebt als die Gewalt selbst, an die sich viele Betroffene bereits gewöhnt haben. Damit sich von Gewalt betroffene Opfer jemandem anvertrauen können, bedarf es einer aufmerksamen und „zwischen den gesprochenen Sätzen hörenden“ Person, die sich nicht scheut, auf einer persönlichen und die Gefühle fokussierenden Gesprächsebene nachzufragen. Die Floskel „Wie geht es Ihnen?“ ist dafür zu wenig. Ernst gemeinte Nachfragen über das gesundheitliche und allgemeine Befinden sowie zu etwaigen Schwierigkeiten des persönlichen Alltags sollte das auf Gewaltvorkommnisse fokussierte ärztliche Gespräch beinhalten.



Häusliche Gewalt erkennen

Zum einen ist zu bedenken, dass familiäre Gewalt sich selbst zumeist verstärkend zur Aufrechterhaltung des innerfamiliären Machtverhältnisses dient. Gewaltvorkommnisse sind selten ein Einzelfall. Der sich selbst verstärkende Kreislauf von Gewalthandlung – Entschuldigung – Verzeihung – Gewalthandlung – Entschuldigung – Verzeihung usw. bedarf einer Durchbrechung von außen. Personen, die sich in diesem Kreislauf befinden, erachten die Vorkommnisse oft nicht als Gewalt und erleben diese als zum Zusammenleben dazugehörend. So auch Kinder, die erzählen, dass sie erst durch Gespräche mit anderen Kindern oder im Rahmen eines Schulvortrages eines Kinderschutzzentrums begonnen haben, darüber nachzudenken, ob ihr Erleben in der Familie etwas mit Gewalt zu tun hat.

Auch ist hier zu bedenken, dass oftmals bei häuslicher Gewalt Kinder ebenso betroffen sind, sowohl als direkte Opfer als auch als Zeugen von familiärer Gewalt. Psychische Verletzungen aus einer derartigen Zeugenschaft können auf die Psyche ebenso verstörend und krankmachend wirken wie selbst Opfer eines gewalttätigen Übergriffes geworden zu sein. Diese Tatsache ist gut nachvollziehbar, bedeutet das (Mit-)Erleben von Gewalt stets einen hohen, nicht kontrollierbaren psychischen Stress und das Ausgeliefertsein einer nicht kontrollierbaren Situation sowie eine Bedrohung des eigenen Selbst. Auch im Rahmen der Klinischen Psychologie kennen wir kein Verfahren, das uns verlässlich Gewalterleben bei einer Person erkennen und diagnostizieren lässt. Es ist einzig und allein das Gespräch und die damit verbundene, fragentechnisch offen geführte Exploration einer Patientin oder eines Patienten.



Wichtige Hinweise

Im Gespräch selbst sind es zumeist anfänglich kleine Hinweise, die uns beim genauen Hinhören und Hinsehen auffallen können, wie etwa

  • unsicher, nervös, fahrig wirkendes Verhalten oder auch schreckhaftes Zusammenzucken, beispielsweise bei einer raschen Armbewegung des Untersuchenden;

  • die Angaben, dass keine Zeit vorhanden ist, Freunde zu haben und zu treffen, und es keinen außerfamiliären Austausch gibt;

  • sämtliche Entscheidungen einer Rückfrage beim Partner bedürfen und eine Eigenständigkeit nicht zu erkennen ist;

  • ein ärztliches Gespräch nicht allein vom Patienten geführt werden darf und bei der Beantwortung von Fragen stets der Blickkontakt mit der Familienperson gesucht wird;

  • immer wieder von Schmerzen berichtet wird, für die es jedoch keinen physischen Grund gibt;

  • verschiedene Verletzungen in unterschiedlichem Heilungsstadium, für die es keine schlüssige Begründung gibt, sowie

  • bei offensichtlich erkennbaren Verletzungen, die nicht durch eine Unachtsamkeit, wie etwa so manch „blauer Fleck am Schienbein“, entstanden sein können. Dieses Wahrnehmen von Verletzungen, die vielleicht nur ansatzweise, zum Beispiel an der Innenseite des Oberarms, oder etwa eine kreisrunde Verbrennung, ähnlich jener eines Zigarettenabdrucks, zu ersehen sind, ist somit ein weiterer wichtiger Beobachtungsschritt, dem eine gezielte Nachfrage folgen muss.

Es ist erforderlich, jede Erklärung zu respektieren, jedoch nicht als schlüssige Erklärung gelten zu lassen, vor allem dann nicht, wenn es dem medizinischen Wissen widerspricht. In diesen Fällen bedarf es weiterer Nachfragen und der damit verbundenen Möglichkeit, dass sich der Patient einem anvertrauen kann.



Hilfsangebote aufzeigen

Vorsicht vor etwaigen Versprechen, im Rahmen der ärztlichen Verschwiegenheit nichts weiterzusagen. Wenn von Gewalttätigkeiten berichtet wird, ist es Pflicht, diese auf- und anzuzeigen und sich für eine Beendigung einzusetzen. Wichtig ist es, die Hilfsbereitschaft und Unterstützung mit der Nennung von entsprechenden Hilfsangeboten aufzeigen, die sogleich oder auch später in Anspruch genommen werden können, ebenso wie die entschiedene Haltung, dass wir uns in unseren Werten und der darauf aufbauenden österreichischen Gesetzgebung auf eine gewaltfreie Gesellschaft verständigt haben, in der sämtliche Gewaltformen strafbare Delikte darstellen.

Um sich als Behandler wie auch Betroffener Unterstützung bei der Aufdeckung und Beendigung häuslicher Gewalt zu holen, sind hier die regional vorhandenen Institutionen, wie etwa jene im Rahmen des Frauen- und Kinderschutzes zu nennen sowie auf die tagesaktuellen Informationen des österreichischen Innenministeriums zu verweisen.

 
 

Anlaufstellen

• In Graz gibt es eine neue Anlaufstelle für Betroffene von Gewalt. An der Med-Uni Graz wurde am 6. Mai 2024 eine neue Gewaltambulanz eröffnet. Die Untersuchung ist kostenlos, eine E-Card ist nicht notwendig.
Kontakt: gerichtsmedizin.medunigraz.at/gewaltambulanz

• In Wien wird im Sommer eine weitere Gewaltambulanz eröffnet.

• Die forensische Untersuchungsstelle für Kinder und Jugendliche (FOKUS) der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Medizinischen Universität Wien dient der Unterstützung von Kinderschutzgruppen und fokussiert die tatzeitnahe Abklärung und Dokumentation anhand vorhandener und objektivierbarer Spuren in einem standardisierten Verfahren. Zu den zentralen Aufgaben zählen auch die Ausbildung und Fortbildung für Kinderschutzgruppen und die Kindernotfallambulanzen.
Kontakt: kinder-jugendheilkunde.meduniwien.ac.at/forschung/forschungsprojekte/fokus


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