Sex-Positivity in der Medizin

Sex-Positivity steht für eine bejahende, offene und selbstbestimmte Haltung gegenüber den Themen der Intimität und Beziehung. Im Mittelpunkt steht dabei die achtsame und reflektierte Auseinandersetzung mit Sexualität, die als permanenter Lern- und Entwicklungsprozess verstanden wird.


AUTOR:INNEN:


Assoc.-Prof.in Priv.-Doz.in Mag.a Dr.in Kathrin Kirchheiner

Univ. Klinik Radioonkologie Medizinische Universität Wien

kathrin.kirchheiner@meduniwien.ac.at


Ap. Prof. Priv.-Doz. Dr. med. Dr. scient. med. Igor Grabovac

Zentrum für Public Health

Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin, Medizinische Universität Wien


Ottokar Lehrner

Community Representative Sex-Positivity, Schauspieler, Beziehungscoach, Workshopleiter, Festivalkurator


Das Verständnis von Sexualität geht dabei weit über penil-vaginalen Geschlechtsverkehr hinaus und umfasst jegliche Art von lustvollem Genuss, mit sich selbst oder anderen Menschen. Sexualität wird dabei als essenzieller Beitrag zu persönlicher Lebensqualität und Vitalität angesehen, aber auch darüber hinaus als Möglichkeit zur Persönlichkeitsentwicklung und -ausdruck begriffen.

Eine sexpositive Einstellung ist geprägt von einer differenzierten Selbsterfahrung und -reflexion, um eigene Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen zu explorieren. Dies erfordert einen achtsamen, introspektiven Umgang mit Körperwahrnehmung und Emotionen einerseits, aber auch eine tiefergreifende Auseinandersetzung mit limitierenden Glaubenssätzen, gesellschaftlichen Normen und festgeschriebenen Rollen.

Ebenso zentral ist die Fähigkeit der Selbstverbalisation, eigene Bedürfnisse ohne Scham zu artikulieren und über Sexualität explizit zu kommunizieren, um Einvernehmlichkeit herzustellen. Dieser Konsens wird als Grundvoraussetzung für partnerschaftliche sexuelle Interaktion angesehen und ist klar definiert als affirmative und deutlich ausgesprochene Zustimmung („explizites und enthusiastisches Ja!“), welche sich deutlich von passiv-schweigenden Mitmachen oder Dulden von sexuellen Handlungen abgrenzt. Dieses sexpositive Konzept ist vertrauensbildend und bietet dabei einen sicheren Rahmen, sich spielerisch, experimentell und lustvoll mit sich und anderen auseinanderzusetzen und dabei konventionelle Grenzen zu überschreiten.

Konsensbasierte Moral

Die sexpositive Wertehaltung bricht dezidiert mit tradierten, normativ-wertenden Moralvorstellungen. Diese entstammen historisch gesehen religiösen Bewertungen („sittliches versus unsittliches sexuelles Verhalten“) bzw. auch medizinischen Klassifikationen, welche Normvariationen der Sexualität als Störung definieren und pathologisieren. Gesellschaftliche Kategorisierungen sind hingegen einem permanenten Wandel unterzogen und nehmen Bezug darauf, welche sexuelle Vielfalt statistisch mehrheitlich praktiziert wird.

In der sexpositiven Bewegung wird hingegen eine konsensbasierte Moral als fundamentales Prinzip in den Vordergrund gestellt. Wenn sexuelle Neigungen, Orientierungen und Handlungen in einvernehmlicher und affirmativer Zustimmung erfolgen und die sexuelle Selbstbestimmung sowie Schutzbedürftigkeit aller involvierten Personen nicht verletzt werden, steht eine moralische Bewertung außer Frage.

Diese konsensorientierte Moral findet zunehmend Einfluss in die moderne Medizin. Dies zeigt sich besonders gut am Beispiel der Diagnostik von paraphilen Störungen nach dem DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Auflage): Sexuelle Präferenzen, welche von der gesellschaftlichen Norm abweichen, werden wertfrei als Varianten sexueller Vorlieben/Paraphilien gelistet. Diesen wird erst dann differentialdiagnostisch ein psychischer Störungscharakter zugewiesen, wenn Handlungen gegen das Einverständnis anderer Personen durchgesetzt werden (z. B. im Rahmen von Sexualdelikten) bzw. an nicht konsensfähigen Menschen
(z. B. Kinder, Substanzintoxikation) oder Lebewesen ausgeübt werden oder ein Risiko für solche Handlungen besteht (Fremdgefährdung), sowie bei subjektivem Leidensdruck oder sozialen Beeinträchtigungen in wichtigen Funktionsbereichen.

Diversität und Vielfalt

Die sexpositive Bewegung setzt sich gesellschaftspolitisch für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ein und inkludiert Menschen, Beziehungsformen und Lebensentwürfe, welche durch gesellschaftliche Konventionen häufig durch Vorurteile negativ bewertet werden. Diversität und Vielfalt werden dabei wertgeschätzt und nicht beurteilt, auch wenn sie von den eigenen Vorstellungen und Präferenzen abweichen.

Dadurch zeichnet sich eine sexpositive Wertehaltung durch respektvollen Umgang aus, welcher sexuelle Orientierungen, Geschlechtsidentitäten, sexuelle Präferenzen und Ausdrucksformen sowie alternative Beziehungsmodelle jenseits der exklusiven monogamen Sexualität in Zweierbeziehungen inkludiert.

Wie können nun das Konzept und die zugrundeliegende Wertehaltung der Sex-Positivity in der Medizin Einfluss finden? Im Gesundheitswesen ist das Thema der sexuellen Gesundheit generell noch stark tabuisiert. Obwohl viele weitverbreitete „Volkskrankheiten“ bzw. Nebenwirkungen der Sexualität deren Therapien Beeinträchtigungen zur Folge haben können, wird dieses Thema in der ärztlichen Gesprächsführung selten inkludiert. Mit einer sexpositiven Haltung hingegen wird die sexuelle Gesundheit von Patient:innen als integraler Teil von Lebensqualität verstanden. Dadurch wird diese von Mediziner:innen proaktiv und routinemäßig angesprochen. Gelassenheit und Souveränität helfen, das Thema zu normalisieren und als selbstverständlichen Teil einer umfassenden Gesundheitsversorgung zu integrieren.

Offenheit und Wertneutralität

Sex-Positivity und Offenheit können im medizinischen Setting – sowohl im Krankenhaus als auch im niedergelassenen Bereich – einfach signalisiert werden, etwa durch entsprechende Plakate oder Broschüren im Wartebereich, welche sexuelle Gesundheit in einem positiven Kontext thematisieren (z. B. außerhalb der Prävention von sexuell übertragbaren Erkrankungen). Internalisierte hetero-normative Annahmen, welche im klinischen Alltag noch verbreitet sind, werden mit einer sexpositiven Haltung aktiv infrage gestellt. Diese umfassen zum Beispiel eine rigide Einteilung in binäre Systeme (Männer oder Frauen), welche sich auch dem Geschlecht zugehörig fühlen, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde (Cisgender), welche überwiegend heterosexuell orientiert sind, monogam in Beziehung leben und konventionelle Sexualität ausüben mit dem primären Fokus auf penil-vaginalem Geschlechtsverkehr.

Hier ist eine offene und wertneu­trale Herangehensweise in der ärztlichen Praxis empfehlenswert, vor dem Hintergrund, dass Normvariationen (oder Abweichungen von eigenen Vorstellungen zur Sexualität) per se weder eine Krankheit noch eine Störung implizieren. Dabei ist das Hinterfragen der eigenen Werthaltung und eventuellen Wertekonflikten hilfreich. Letztere zeigen sich sowohl verbal, durch vorbelastete Begriffe und moralisierende Sprache, aber auch unwillkürlich nonverbal (durch Körperhaltung, Gestik und Mikroexpressionen der Mimik) und beeinträchtigen eine professionelle, mitfühlende und vorurteilsfreie medizinische Behandlung.  Weiterbildungen im Bereich von Diversität und Inklusion (z.B. LGBTQIA+, Kink, alternative Beziehungsformen) schaffen hier eine gewisse Vertrautheit mit Begrifflichkeiten und dadurch inhaltliche Souveränität und sprachliche Sensibilität.

Zusammenfassend trägt eine sexpositive Haltung in der Medizin dazu bei, gesellschaftliche Tabus zu überwinden und eine Kultur der Selbstverantwortung und des persönlichen Wachstums zu fördern. Sie unterstützt Patient:innen, ihre sexuellen Beziehungen und Erlebnisse selbstbestimmt und frei von Vorurteilen zu gestalten, und stärkt damit die individuelle Lebensqualität.


FOTOS: MED UNI WIEN, ISTOCKPHOTO/ FILADENDRON

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