Kurfähigkeit der Patienten
Während die „Zutaten“ von Kur und Reha nahezu gleich sind, haben beide ganz unterschiedliche Ziele und Anforderungen.
AUTORIN: Dr. Karin Serrat
FÄ für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Ärztliche Leitung der Gesundheitseinrichtung Bad Hofgastein der BVAEB, Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau,
karin.serrat@bvaeb.at
www.bvaeb.at
Seit einem Jahr moderiere ich den Kurs zur Kurärzteausbildung mit Ärztekammerdiplom in Bad Hofgastein und bin auch im Verband der Österreichischen Heilbäder und Kurorte präsent. Immer wieder wird bei diesen Treffen rund um die Kur und GVA (Gesundheitsvorsorge Aktiv) von den Kollegen das Thema der Kurfähigkeit unserer Patienten aufgebracht. Es scheint sich doch um ein all gegenwärtiges Thema zu handeln, dessen Missachtung unsere Betreuung am Kurort erschwert oder sogar zum Kurabbruch führt. Deshalb werde ich die sogenannte „Kurfähigkeit“ unserer Patienten einmal näher beleuchten.
Bereits in den 90er-Jahren, als ich in der Ausbildung den damals blaugrünen Antrag für meine Patienten ausfüllen musste, war ich durch die Angabe: kurfähig ja/nein völlig überfordert und verstehe deshalb gut, warum es zu Problemen kommen kann. Einerseits besteht oft schon im Rahmen einer Akutversorgung der Wunsch, den Patienten einem Kurverfahren oder der GVA zuzuführen. Andererseits sind es im niedergelassenen Bereich die Patienten selbst oder Angehörige, die die Beantragung zur Kur/GVA wünschen bzw. fordern. Meist geht dem Antrag eine lange Phase des Leidens am Bewegungsapparat voraus, oft haben mehrere Serien an Physiotherapie nicht ausreichend geholfen. Eine Kur in einem geeigneten Kurhaus muss beantragt werden. Das Heft, das Sie gerade lesen, wird Ihnen bei diesem Wunsch, einen Kurort auszusuchen, sehr dienlich sein. Hier können Sie die geeigneten Kurmittel für Ihren „Fall“ ablesen! Sie können aber auch auf der Webseite des Österreichischen Heilbäder- und Kurorteverbandes (ÖHKV) demnächst online die Spezifikation der Kurorte erfahren.
Damit haben wir aber die Kurfähigkeit noch nicht berücksichtigt. Was ist damit gemeint? Ich möchte hier zwei Begriffe erläutern:
1. Allgemeine Leistungsfähigkeit der Patienten: Im Rahmen einer Kur/GVA müssen Trainingseinheiten absolviert werden, und das täglich. Dazu werden die Patienten animiert, auch „outdoor“ doch mindestens gewisse Gehstrecken oder sogar Wanderungen zu unternehmen. Die Leistungsstärkeren unter den Kurteilnehmern sollen auch die bereitgestellte Kraftkammer nach Einschulung mindestens zweimal pro Woche nützen. Da wäre dann auch noch der Patientenwunsch, das Schwimmbad zu besuchen …
In der professionellen Betreuung von Sportlern wird eine Steigerung der absolvierten Einheiten, auch bei guter Trainingslage, nur langsam über Wochen empfohlen. Für unsere Kurpatienten sollten ähnliche Grundsätze beachtet werden! Einem Patienten mit einer schmerzbedingt reduzierten Gehstrecke wird dieses Prozedere der langsamen Herangehensweise leider nicht ermöglicht. Grund dafür: die vom System geforderten Therapieeinheiten in einer mit drei Wochen begrenzten Kur/GVA.
2. Kur bedeutet die Fähigkeit zur Adaptation und Anpassung, nicht nur an eine allgemeine körperliche bessere Leistung, sondern auch auf Reize, die das gesamte Vegetativum in seiner Regulationsfähigkeit fordern. Das ist auch vom jeweils spezifischen ortsgebundenen Angebot an Kurmitteln abhängig: Nicht alle Kurmittel haben dieselbe Reizstärke, das heißt, sind gleichermaßen anstrengend. Typische Beispiele für starke Kurmittel sind: Schwefel (starke Hyperämie), Moor (vegetative Anstrengung wie Müdigkeit, Kreislauf-Adaptationsprobleme), Radon (vegetative Probleme wie Kreislaufregulation, Schmerzverschlimmerung bei Therapiebeginn = Kurreaktion). Gerade Kurmittel, die am Bewegungsapparat besonders gut wirksam sind, können die Anpassungsfähigkeiten der geriatrischen Patienten überfordern. Es sollte sich in drei Wochen ein kleines Wunder tun: Schmerzreduktion, Steigerung der Leistungsfähigkeit, Zunahme der Vitalität, … schlicht eine Verjüngung um mehrere Jahre wäre recht. Das ist natürlich kein realistisches Ergebnis, das erstaunlicherweise trotzdem gelegentlich zu beobachten ist!
Was ist nun zu berücksichtigen?
Je älter unsere Patienten werden, desto häufiger müssen wir die allgemeine Reduktion der Leistung und Muskulatur beachten. Das gilt vor allem bei adipösen Patienten, denn gerade diese haben im Verhältnis zum Körpergewicht ein erhebliches Defizit an Muskulatur und sind sehr schnell durch das Programm überfordert. Auch werden manchmal Patienten zugewiesen, die einen Pflegegeldanspruch haben. Kurfähigkeit und Pflegegeld schließen einander grundsätzlich aus. In diesem Fall muss ganz konkret überlegt werden, ob eine Rehabilitation für den Patienten möglich ist. Denn am Kurort müssen Patienten selbstständig und zweifelsfrei orientiert sein, also auch die Therapieorte selbstständig aufsuchen können. Häufiges Umkleiden ohne Unterstützung gehört dazu: für die Unterwassertherapie, Fango, die Kraftkammer, das Nordic Walking im Kurpark – alles an einem Tag. Körperlich wird ihnen abverlangt, dass sie sich auf ein tägliches Trainingsprogramm mit einem Wechsel von Kraft und Ausdauer, aber auch auf sensomotorische Einheiten einlassen können, ohne gleich tags darauf zu dekompensieren. Natürlich ist es schwierig, im Voraus eine verbindliche Einschätzung abzugeben. Wenn aber der Patient schon weiß, dass er keine 100 m Gehstrecke schafft und nicht wenigstens zwei Stockwerke gehen kann, dann ist Zweifel an der Kurfähigkeit durchaus angebracht. Darüber hinaus kommt es zunehmend häufig zum Dekompensieren einer beginnenden Demenz, die zu Hause gar noch nicht aufgefallen ist. Das erfordert natürlich einen sofortigen Kurabbruch, die Sorge des Heimtransportes liegt meist beim Kurarzt, Angehörige fühlen sich oft nicht zuständig. „Der Opa war ja zu Hause ohne Hilfe lebensfähig …“
Im Vorfeld plädiere ich also auf eine diesbezüglich sorgfältige Anamnese! Bei jüngeren Patienten, die wegen internistischer Krankheiten Defizite der Leistungsfähigkeit aufweisen, könnte eine Ergometrie vor dem Kuraufenthalt eine wichtige Hilfestellung sein: Bei Ausbelastung sollte die LF mindestens 100 Watt betragen, sonst ist das Absolvieren des von der Sozialversicherung beantragten Programmes nicht realistisch.
Unterschied von Kur/GVA und Rehabilitation
Bei einem Kuraufenthalt wird die allgemeine Adaptation des ganzen Körpers mit zum Teil unspezifischen Maßnahmen wie Diäten und Bädern „erwirtschaftet“. Bei einem Rehabilitationsaufenthalt geht es um ein spezifisches Problem, das auch spezifisch und sozusagen lokal trainiert wird, dazu kommt noch die individuelle Anpassung des Programmes an das Bedürfnis des Betroffenen. Im Rehazentrum ist für die unselbstständigen Patienten durch die Pflege und Nachtdienste des medizinischen Personals gesorgt, die Probleme mit den ADL (z. B. Aus- und Anziehen oder Körperpflege) können so kompensiert werden.
Schwierig ist die von uns häufig erlebte Situation: Ein Patient kommt nach einem Sturzereignis mit operativ sanierter Femurfraktur zur Kur. Ein zweifelsfreier Fall für die Rehabilitation, egal ob ambulant oder stationär. Aber vor dem Unfall war eine Kur beantragt und bereits bewilligt worden. Der Patient fragt sogar im Krankenhaus nach, ob er auf Kur fahren soll. Die Antwort des leider unwissenden Kollegen ist: „Ja sehr gut, die Fraktur ist übungsstabil nach OP, Sie können alles machen … erholen Sie sich gut“.
Der Patient muss ein sehr reduziertes Kurprogramm hinnehmen, da er eben nicht alle Anwendungen selbstständig und ohne Krücken machen kann. Er braucht natürlich Therapiemaßnahmen, wie Elektrotherapie, Krafttraining, Unterwassertherapie, Physiotherapie, Gangschulung und eventuell Hilfe bei ADL wie zum Beispiel beim Duschen und Anziehen, was aber im Rahmen des Kurhauses nicht vorgesehen ist.
Also die „Zutaten“ von Kur und Reha sind fast gleich, die Zielsetzungen und Anforderungen ganz unterschiedlich. Insgesamt lässt sich zusammenfassen: Patienten, von denen eine gute Anpassung an neue Anforderungen erwartet werden kann, sind für die Kur/GVA geeignet. Patienten, die eine vorübergehende Überforderung erleben, aber ihre Selbstständigkeit nicht verloren haben, sind kurfähig. Patienten, die ein spezifisches Problem oder einen Unfall haben und im Alltag am Rande ihrer Leistungsfähigkeit sind, sind nicht kurfähig und sollten ambulante oder stationäre Rehabilitation in Anspruch nehmen. Ein probates Mittel, um im Zweifelsfall die Leistungsfähigkeit objektiv darzustellen, ist die Ergometrie, die auch jedem empfohlen wird, der nach jahrelanger Inaktivität eine sportliche Betätigung aufnehmen will. Auch ein klärendes Telefonat mit dem Patienten, bei dem die aktuellen Fähigkeiten abgefragt werden, ist zielführend.
Foto: bvaeb, istockphoto/ Andrey Popov