Verbesserung der Arbeitsfähigkeit durch die ambulante Wirbelsäulenrehabilitation der Phase 3

Rückenschmerzen (low back pain = LBP) betrafen im Jahr 2020 etwa 619 Millionen Menschen weltweit. Diese Zahl soll auf 843 Millionen Menschen innerhalb der kommenden 30 Jahre ansteigen.¹


AUTOR: Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Quittan, MSc, SFEBPRM

Karl Landsteiner Institut für physikalischrehabilitativeMedizin, 3541 Senftenberg

www.rehab-hietzing.at

AUTOR: Univ.-Prof. Dr. Günther Wiesinger 

Rehab Institute Wien

www.rehabil.at


In Österreich berichten knapp 40 % der Menschen, unter Rückenschmerzen zu leiden. Diese Zahl hat sich zwischen 1973 und 2007 verdoppelt.² In einer Liste ausgewählter, chronischer Krankheiten stehen chronische Kreuzschmerzen sowohl bei Männern als auch bei Frauen an der Spitze der Zwölf-Monats-Prävalenz.³

Die Neuzugänge an Pensionen der geminderten Arbeitsfähigkeit bzw. der dauernden Erwerbsunfähigkeit bei Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes betrugen 2022 knapp 21 % und stehen damit an zweiter Stelle der Diagnosegruppen.⁴

Da Wirbelsäulenschmerzen in alle Lebensbereiche der Betroffenen eingreifen, ist der Leidensdruck entsprechend groß. Im Sinne des bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells besteht eine ausgeprägte Wechselwirkung zwischen den Lebensumständen der Erkrankten und deren Krankheitsverarbeitung. Dieser holistische Ansatz wird heute durch das bio-psycho-soziale ICF-Modell der WHO abgebildet. An diesem Konzept richtet sich auch die moderne medizinische Rehabilitation aus. Das Ziel ist nicht nur eine Verbesserung der Aktivität, sondern vor allem eine Verbesserung der Teilhabe. Der Erhalt beziehungsweise die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit ist ein wesentlicher Aspekt der Teilhabe und damit ein wichtiges Rehabilitationsziel.

Um einer Chronifizierung des Schmerzgeschehens vorzubeugen, muss nach einer suffizienten Akutbehandlung großes Augenmerk auf eine bestmögliche Wiederherstellung der Gesundheit, im Sinn des bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells, gelegt werden. 

Dimensionen des MOS SF-36 am Beginn, am Ende sowie 18 Monate nach Beendigung der ambulanten Wirbelsäulenrehabilitation. Die Werte repräsentieren den Median, aus der Publikation Pieber et al.⁶

Rehabilitatives Assessment 

Vor der rehabilitativen Intervention muss eine entsprechende Diagnostik, auch als rehabilitatives Assessment bezeichnet, durchgeführt werden. Dieses Assessment umfasst alle Komponenten der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO. Neben der Diagnostik auf der Funktions- und Aktivitätsebene ist ein entsprechendes Assessment auf der Partizipationsebene essenziell. 

Es zeigten sich hochsignifikante Verbesserungen der Lebensqualität durch die ambulante Wirbelsäulenrehabilition der Phase 3. Verwendet wurde dafür der MOS SF-35. Es zeigen sich in den Dimensionen körperliche Funktionsfähigkeit und Rollenfunktion, Schmerz, Vitalität und allgemeine Gesundheitswahrnehmung hochsignifikante Verbesserungen am Ende der Rehabilitation, die auch noch in einer Nachbeobachtung nach 18 Monaten nachweisbar sind (Abb. 1). Ein wesentlicher Aspekt der gesellschaftlichen Teilhabe ist die Berufs- bzw. Arbeitsfähigkeit, welche die Fähigkeit eines Menschen definiert, eine gegebene Arbeit zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bewältigen. 

Der Work Ability Index (WAI) ist das am häufigsten verwendete Instrument zur Messung dieser Arbeitsfähigkeit. Per Fragebogen wird ein Indexwert zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit errechnet. Der Wert zeigt an, inwiefern ein Arbeitnehmer aufgrund der persönlichen Gegebenheiten und der vorhandenen Arbeitsbedingungen in der Lage ist, seine Arbeit zu erledigen. Die Bewertung der subjektiven Arbeitsfähigkeit wird in Punkten angegeben, deren Wert zwischen 7 und 49 Punkten liegt. Der WAI ist auch ein zuverlässiges und valides Instrument, um die Arbeitsfähigkeit bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen zu bewerten.

Neben einem standardisierten Instrument ist die einfache subjektive Einschätzung der Betroffenen über ihre Arbeitsfähigkeit wichtig. Visuelle Analogskalen (VAS) repräsentieren unkomplizierte, valide und zuverlässige Messinstrumente zur Quantifizierung subjektiver Empfindungen. Daher erfasst unser Assessment die persönlich empfundene Arbeitsfähigkeit. Auf einer visuellen Analogskala geben die Betroffenen an, wie stark sie sich durch ihre Wirbelsäulenerkrankung eingeschränkt fühlen, ihren Beruf auszuüben. Der Wert „0“ bezeichnet keine subjektive Einschränkung, der Wert „100“ ergibt eine maximal empfundene Einschränkung der persönlichen Arbeitsfähigkeit.

Eine günstige Beeinflussung der Arbeitsfähigkeit durch Rehabilitation bei Wirbelsäulenerkrankungen ist auch in der internationalen Literatur dokumentiert. In einer randomisiert kontrollierten Studie konnte gezeigt werden, dass 87 % der Patienten nach einem Training der Lumbalextensoren ihre Erwerbstätigkeit wieder aufnehmen konnten. In der Gruppe, die kein Training absolviert hatte, waren es nur 24 %.¹

Interventionen zur Schmerzbewältigung

Bei Menschen mit chronischen rezidivierenden Kreuzschmerzen sind alle Komponenten der funktionalen Gesundheit betroffen. Auf Ebene der Körperstruktur und Körperfunktion ist der Schmerz das Leitsymptom dieser Betroffenen. Das Risiko einer Chronifizierung des Schmerzgeschehens ist hoch. Eine psychosoziale Belastung wird per se als Risikofaktor angesehen. Depressivität/Distress, aber auch Aspekte der Schmerzverarbeitung und des Schmerzverhaltens sind weitere hohe Risikofaktoren für eine Chronifizierung des Schmerzerlebens. Daher nehmen Interventionen zur Schmerzbewältigung einen wichtigen Platz innerhalb der ambulanten Wirbelsäulenrehabilitation ein.¹¹

Ärzte, Physio- oder Ergotherapeuten vermitteln daher in interaktiven Kleingruppen, mit visueller Unterstützung, das bio-psycho-soziale Schmerzmodell, die funktionelle Anatomie sowie die Pathologie der Wirbelsäule.¹²

Bedingt durch Schmerzen und Inaktivität kommt es zu einer Störung der Muskelfunktion im morphologischen und sensomotorischen Bereich. Auf dieser Ebene greift die medizinische Trainingstherapie an. Ihre Bestandteile sind gezieltes medizinisches Kraft- und Sensomotoriktraining. Sie hat die Aufgabe, neben der Wiederherstellung einer normalen Funktion der Wirbelsäulen- und Rumpfmuskulatur, die Betroffenen zu einer Wiederaufnahme regelmäßiger körperlicher Aktivitäten zu befähigen und zu ermutigen.¹³

Schmerzverlauf, gemessen mittels Visueller Analog Skala (0-100). Median (IQR) vor (VAS Beginn) und nach (VAS Ende) der ambulanten Wirbelsäulenrehabilitation sowie nach 18 Monaten Nachbeobachtung (VAS 18 Monate) nach Ende der Rehabilitation.⁶

Effekte der ambulanten Wirbelsäulenrehabilitation

Seit nahezu 20 Jahren bieten die Pensionsversicherungsanstalt sowie Sozialversicherungen ihren nicht-pensionierten Versicherten mit Wirbelsäulenerkrankungen eine spezifische, ambulante Rehabilitationsmaßnahme an. Dieses Programm wurde von den Autoren entwickelt und ist wissenschaftlich evaluiert und entsprechend publiziert. Es konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass diese Rehabilitation des chronischen und chronisch rezidivierenden Kreuzschmerzes wirksam und nachhaltig ist. Sowohl am Ende der Rehabilitation nach sechs bis acht Monaten als auch nach weiteren 18 Monaten Nachbe­obachtung konnten eine signifikante Schmerzreduktion (Abb. 2), eine signifikante Steigerung der Lebensqualität (Abb. 1) sowie eine signifikante Zunahme der körperlichen Leistungsfähigkeit gegenüber dem Rehabilitationsbeginn, mit großer Effektstärke, nachgewiesen werden. Die körperlichen Funktionsparameter haben sich sogar normalisiert.¹³

Verbesserung der Arbeitsfähigkeit 

In einer ersten multizentrischen Pilotuntersuchung wurden 98 Patienten vor und nach der Wirbelsäulenrehabilitation der Phase 3 mittels WAI und individueller Visueller Analogskala befragt. Es ergab sich eine deutlich eingeschränkte subjektive Arbeitsfähigkeit zu Beginn mit einem WAI von 35 (Median, keine Einschränkung = 45). Am Ende der Rehabilitation stieg der WAI auf 39 hoch signifikant an. Es kommt zu einer deutlichen und signifikanten Verlagerung der Patienten in „bessere“ WAI Kategorien nach der Beendigung der Rehabilitation.

Die VAS der subjektiv empfundenen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zeigte am Beginn der Rehabilitation eine Einschränkung von 31 (Median, keine Einschränkung = 0). Am Ende der Rehabilitation sank der Wert der VAS hochsignifikant auf 9  (Median) ab.¹⁴ Abbildung 3 zeigt die Veränderungen grafisch. Durch die konkordanten Veränderungen kann von einer signifikanten und relevanten Verbesserung der Arbeitsfähigkeit der Teilnehmer an der ambulanten Wirbelsäulenrehabilitation der Phase 3 ausgegangen werden. 

VAS der subjektiven Arbeitsfähigkeit am Beginn und am Ende der ambulanten Wirbelsäule Rehabilitation der Phase 3 (AWSR). Die Werte zeigen den Median und IQR.¹⁴

Frühe Integration

Gemäß dem bio-psycho-sozialen Modell und der Gefahr der Chronifizierung ist es wichtig, die Patienten frühzeitig in diese Rehabilitationsmaßnahme zu integrieren. Bereits beim ersten Aufscheinen im System ist eine rasche Intervention geboten. Ein Zuwarten (z. B. erst nach einer Bandscheibenoperation) führt zu einer Chronifizierung des Schmerzgeschehens und damit zu nachteiligen, ganzheitlichen Veränderungen. Dadurch verschlechtert sich für die Betroffenen die Chance auf eine Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess signifikant.

Zur Durchführung dieser ambulanten Wirbelsäulenrehabilitation haben die dafür leistungsrechtlich zuständigen Sozialversicherungsträger detaillierte Strukturqualitätskriterien erstellt. Somit ist eine österreichweite Versorgung, entsprechend den Vorgaben des Rehabilitationsplanes für ambulante Rehabilitation in Österreich, durch entsprechende Sachleistungen sichergestellt. 

Alle Patienten, die eine Gesundheitsvorsorge Aktiv (Kur-neu) oder eine Rehabilitation wegen einer wirbelsäulenbezogenen Diagnose absolviert haben, berufstätig sind oder eine befristet zuerkannte Invaliditäts- bzw. Berufsunfähigkeitspension oder Rehabilitationsgeld beziehen, können einen Antrag auf eine ambulante Wirbelsäulenrehabilitation der Phase 3 stellen.

Informationen: www.aws-rehab.at


Literatur

  1. GBD 2021 Low Back Pain Collaborators. Global, regional, and national burden of low back pain, 1990–2020, its attributable risk factors, and projections to 2050: a systematic analysis of the Global Burden of Disease Study 2021. The Lancet Rheumatology 2023;5:e305-e362. doi.org/10.1016/S2665-9913(23)00098-X.

  2. Großschädl F, Stolz E, Mayerl H, Rásky É, Freidl W, Stronegger WJ. Rising prevalence of back pain in Austria: considering regional disparities. Wien Klin Wochenschr. 2016 Jan;128(1-2):6-13. doi: 10.1007/s00508-015-0857-9. 

  3. Klimont J. Österreichische Gesundheitsbefragung 2019:25. Bundesanstalt Statistik Österreich S 25. www.statistik.at/fileadmin/publications/Oesterreichische-Gesundheitsbefragung2019_Hauptergebnisse.pdf

  4. Jahrbuch der Gesundheitsstatistik 2022, STATISTIK AUSTRIA. Bundesanstalt Statistik Österreich , Verlag Österreich GmbH ISBN 978-3-903393-72-1, Seite 22

  5. Quittan M, Wiesinger GF. Ambulante Wirbelsäulenrehabilitation der Phase 3: ein Update. Schmerz Nachrichten 2023;23:214-218. doi.org/10.1007/s44180-023-00145-z 

  6. Pieber K, Herceg M, Quittan M, Csapo R, Müller R, Wiesinger GF. Long-term effects of an outpatient rehabilitation program in patients with chronic recurrent low back pain. Eur Spine J. 2014 Apr;23(4):779-85. doi: 10.1007/s00586-013-3156-z

  7. Van Den Berg TIJ, Elders LAM, De Zwart BCH, Burdorf A. The effects of work-related and individual factors the work ability index: A systematic review. Vol. 66, Occupational and Environmental Medicine. 2009. p. 211–20.

  8. Boekel I, Dutmer AL, Schiphorst Preuper HR, Reneman MF. Validation of the work ability index—single item and the pain disability index—work item in patients with chronic low back pain. European Spine Journal. 2022 Apr 23;31(4):943–52.

  9. McCormack HM, Horne DJ de L, Sheather S. Clinical applications of visual analogue scales: A critical review. Psychol Med. 1988;18(4):1007–19

  10. Choi G, Raiturker PP, Kim MJ, Chung DJ, Chae YS, Lee SH. The effect of early isolated lumbar extension exercise program for patients with herniated disc undergoing lumbar discectomy. Neurosurgery. 2005 Oct;57(4):764-72; discussion 764-72. doi: 10.1093/neurosurgery/57.4.764. PMID: 16239890.

  11. Quittan M, Wiesinger GF.  Die ambulante Wirbelsäulenrehabilitation der Phase 3 – die Bedeutung der psychologischen Interventionen. Schmerz Nachrichten 2023; 23:98-101.  doi.org/10.1007/s44180-023-00115-5

  12. Quittan M, Wiesinger GF. Die ambulante Wirbelsäulenrehabilitation der Phase 3 – die Bedeutung der Krankheitsinformation und der Patientenschulungen. Schmerz Nachrichten 2023;23:161-163. doi.org/10.1007/s44180-023-00129-z

  13. Quittan M, Wiesinger GF. Phase 3 der ambulanten Wirbelsäulenrehabilitation: medizinisches Krafttraining. Schmerz Nachrichten 2023;23:34–37. doi.org/10.1007/s44180-023-00098-

  14. Herf K. Ambulante Wirbelsäulen Rehabilitation: Ein „Vorher-Nachher-Vergleich“ von Patienten*innen mit chronisch rezidivierenden Rückenschmerzen anhand objektiver und subjektiver Messparameter unter besonderer Berücksichtigung der Arbeitsfähigkeit. 2024 Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Doktor in der gesamten Heilkunde an der Fakultät für Medizin, Siegmund Freud Privatuniversität Wien


Fotos: zvg, istockphoto/ simonkr_ UNDEFINEND UNDEFINEND
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